Keine Sieger, nur Opfer: Jan Flieger provoziert mit Selbstjustiz-Thriller


von Hartwig Hochstein, 24.04.2012, Leipziger Volkszeitung

Muss, kann ein Krimi politisch korrekt sein? Wohl kaum. Aber darf er als Plädoyer für Selbstjustiz daherkommen? Diese Frage wirft das Roman-Comeback von Jan Flieger auf.
Nach längerer Pause legt er als einer der erfolgreichsten, schon zu DDR-Zeiten viel gelesenen sächsischen Autoren jetzt ›Auf den Schwingen der Hölle‹ vor. Einen Thriller, in dem es von der ersten bis zur letzten Seiten um Selbstjustiz geht. Die will Ex-Fallschirmjäger Bachmann, einen Vornamen hat er nicht, am Mörder seiner Tochter Manu üben. Ein Drang, der unerträglich wird, als er erfährt, dass dieser nach neun Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, mit Hilfe eines Erbes sogar ein neues Leben beginnen kann.
Fliegers geschickter Schachzug, der das Buch zugleich umstritten macht: Er legt Bachmann Thesen in den Mund, die an den meisten Stammtischen und nicht nur dort höchst populär sind. Dass der Staat sich zu viel um die Täter und zu wenig um die Opfer kümmere, beispielsweise. »Sie haben den Täter therapiert, aber für uns, die Eltern des Opfers interessieren sie sich wenig. Und das ist das wirklich Schreckliche«, argumentiert er. Oder: »Die Gesellschaft sorgte sich um ihn und Heerscharen von Psychologen. Nur wer sorgt sich um uns?«, sagt er zu seiner Frau und Manus Mutter Sarah. Mörder Heiko Emmerlein bekomme eine zweite Chance, ihre geliebte Tochter aber sei für immer tot und sie müssten lebenslang leiden.
Mit dieser Sichtweise überredet er Sarah, die Trost in der Leipziger Gothic-Szene gefunden hat und zum Verzeihen bereit ist, keinen neuen Mord will, an seinem Rachefeldzug teilzunehmen. Der führt ihn, das Fallschirm-Messer im Gepäck, nach Tipps eines Privatdetektivs auf die Lofoten. Ein geografischer Trick, der dem Buch den verkaufsträchtigen Untertitel "Ein Norwegen-Krimi" ermöglicht, aber auch zu eindrucksvollen Landschaftsbeschreibungen führt und zu psychologisch packenden Dialogen über den Sinn von Rache und Vergebung, von Liebe und Hass zwischen Sarah und Bachmann im schwachen Schein der Mitternachtssonne. Bis es endlich zur Begegnung mit Emmerlein kommt.
Bei vielen Krimis siegt am Ende das Gut über das Böse, und alle sind zufrieden. So einfach ist es bei Flieger nicht. Denn wer ist der Gute, wer der Böse? Der angeblich geläuterte Mörder oder der rachsüchtige Vater? Und auch beim dramatischen Show down in Nebel und Sturm hoch über dem Meer gibt es keinen Sieger, sondern nur Opfer.
Ein Finale, das den Leser noch einmal so richtig packt und das Verständnis für Rache und Selbstjustiz ein wenig relativiert.