Von Janina Fleischer
Sein Lieblings-Tatort ist die Realität. Es muss aber nicht unbedingt die Rubrik Regionalkrimi sein, sagt Jan Flieger. Denn der kann schnell verkrampft wirken in seiner topographischer Authentizität. Dennoch hat er einen geschrieben. "Leipzig-Krimi" steht über dem Titel "Der Vierfachmord von Stötteritz". Und tatsächlich fahren Leser nach Stötteritz, um jenen Hinterhof zu finden, in dem neun Schüsse fielen. Sie verlaufen sich an der Grenze zwischen Realität, Region und Roman. Jan Flieger lacht darüber, doch ein bisschen Stolz schwingt mit.
Er mag dieses Buch, aus dem er jetzt gemeinsam mit Polizeipräsident Bernd Merbitz liest. Den kennt er von früher, als dessen Mitarbeiter den Autor mit Details der Polizeiarbeit versorgten. Im "Vierfachmord" ist Leipzig eine Hochburg des Verbrechens, viele haben ein Motiv, nicht selten ist es das der Selbstjustiz. Jan Flieger lacht: "Ja, das beschäftigt mich seit Jahren." Seitdem er "Ein Mann sieht rot" gelesen und den Film gesehen hat. "Ein faszinierendes Thema." Er denke sich das alles ja nicht aus. Der Frust nehme zu, die Gesellschaft werde immer aggressiver, sagt er, und gleichzeitig bei der Polizei Personal gespart. "Nur gut, dass die Waffengesetze in Deutschland andere sind als in den USA. Das begrenzt die Möglichkeiten, auf diese Weise auszurasten."
Flieger hat einige Selbstjustizfälle recherchiert und in "Man stirbt nicht lautlos in Tokyo" (2013) verarbeitet. Oder im Jahr zuvor in "Auf den Schwingen der Hölle", seinem für ihn "stärksten Buch", das im Leipziger fhl Verlag im Herbst in die dritte Auflage geht. In Zahlen heißt das: fast 2500 verkaufte Exemplare bisher, dazu noch einige hundert e-Books. Nicht schlecht auf einem Markt, der in Deutschland seit Jahren zwischen einem Viertel und einem Drittel des Belletristik-Umsatzes ausmacht. 2012 kamen in mehr als 120 Verlagen 2700 gedruckte und 3300 digitale Krimis heraus. Der fhl Verlag, das steht für "feine hand lektüre", ist darauf spezialisiert. Chef Andre Mannchen hat auch den Krimi-Stammtisch ins Leben gerufen, an dem Leipziger Autoren und Komplizen einmal im Monat im "Café Waldi" zusammenkommen.
Die große regionale Krimi-Szene findet zudem in Anthologien zusammen: "Stammtischmorde", "Giftmorde" oder "Wenn der Tod lachen könnte". In allen ist Jan Flieger vertreten, mit 72 Jahren der Älteste. Und einer der Vielseitigsten. Nicht nur, weil er seit Anfang der 80er Jahre auch Kinder- und Jugendbücher schreibt, sondern weil er die Handlung mal auf die Lofoten verlegt , mal nach Tokyo. Dann steht "Norwegen-Thriller" auf dem Titel oder "Japan-Thriller". Oder nun, im jüngsten und zugleich ältesten Fall, "Wirtschafts-Krimi". "Beziehungs-Drama" hätte es ebenso getroffen. Oder "DDR-Bestseller". Denn "Der Sog – ein tödliches Ultimatum" stammt aus dem Jahr 1985, ist damals im Mitteldeutschen Verlag erschienen nach zwei Bänden mit Kurzgeschichten. Weil die "recht kritisch waren", riet der besorgte Verlagsleiters, zum Genre-Wechsel, denn "das falle nun schon auf".
So entstand der laut Flieger "freieste und offenste Krimi der DDR". Dafür hat er die Zensur austricksen müssen. "Einen perfekten Mord zu beschreiben, war in der DDR verboten. Es musste wie ein Unfall aussehen. Ein Drahtseilakt." Doch jeder der lesen kann, erkennt auch den Mord. Die Leser waren begeistert, sagt Flieger, 240000 Exemplare seien in vier Auflagen verkauft worden. Bei einer Lesung in Pirna habe er neulich sechs dieser alten Ausgaben zum Signieren vorgelegt bekommen. Eine West-Ausgabe kann er auch vorzeigen: Was in der DDR nur "Der Sog" hieß, ist 1989 bei S. Fischer unter dem Titel "Ein tödliches Ultimatum" erschienen. Und manch einer erinnert sich vielleicht an die 88er Verfilmung mit Jaecki Schwarz und Angelika Waller in der Reihe "Der Staatsanwalt hat das Wort".
Die jetzt quasi vereinigte Neuauflage trägt beide Titel. Während Jan Flieger inzwischen für Recherchen nach Norwegen oder Island fliegen kann und sich absichtlich nachts in Tokyo verirrt, um zu spüren, wie sich Angst anfühlt, lag der Tatort damals vor der Bürotür. Als Assistent des Werkleiters eines Leipziger Industriebetriebs prüfte er die Kostenrechnungen der Neuerervorschläge und "war erschrocken" über kriminelle Energie, Gier und Dreistigkeit.
Im Roman ist es Hauptfigur Karl Bennewitz, Gruppenleiter für Investvorbereitung, der von der Mutter gelernt hat: "Die Welt will betrogen sein." Seine Frau wünscht sich nichts mehr als einen Bungalow, einen Wartburg und eine Ungarnreise. Geld, Geld, Geld. Als sie herausfindet, dass Bennewitz eine Geliebte hat, und dass es etwas Ernstes sein könnte, erpresst sie ihn. Und er glaubt, ihr Leben vernichten zu müssen, um seines zu retten. "Grenzenlose Raffgier als Motiv des Lebens ohne moralische Schranken hat es in der DDR genauso gegeben, wie es sie heute gibt", sagt Flieger. Sein Revier bleibt die Realität.
© Janina Fleischer, Leipziger Volkszeitung, 3. Juni 2014, Seite 9